Wenn es eine Frage gibt, die mir immer und immer wieder (teilweise auch viele Male von ein und derselbsen Person) gestellt wird, dann ist es die: Wie schaffe ich es, endlich zu springen und zu essen? Erstaunlicherweise kommt diese Frage sowohl von bulimischen als auch anorektischen Frauen. Dabei sollte man doch meinen, dass es bulimische Frauen durchaus gewohnt sind, sehr große Mengen zu essen. Leider ist es aber so, dass alle essgestörten Menschen – ob anorektisch, bulimisch, orthorektisch oder adipös – eine schier unfassbare Angst davor haben, fettleibig zu werden.
(Ja, auch die Adipositas-Patienten, auch wenn sie bereits übergewichtig sind. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass sie adipös sind, weil sie es sich eben nicht gestatten, auf ihren wahrhaftigen Hunger zu hören, sich also nicht gestatten, vollumfänglich zu essen, sondern ununterbrochen mit einem schlechten Gewissen Nahrung zu sich nehmen. Tun wir das, fangen wir an, "heimlich" zu essen. Und dann essen wir mehr, als wir essen müssten, um unseren Körper zu sättigen.)
Diese Angst ist es also, die uns davon abhält, zu springen. Sie tarnt sich meist mit der Frage "Wie mache ich es denn richtig?" Heißt umgekehrt: Wenn ich es "nicht richtig", sondern "falsch" mache, dann werde ich fett oder dann passiert etwas ganz, ganz Schlimmes. Die Frauen, die mich kontaktieren, wollen also den alles entscheidenden Rat von mir: Wie schafft man es, endlich zu springen – und dabei alles richtig zu machen?
Wenn du diese Zeilen liest, weißt du sicher schon, was jetzt folgen wird. Ganz genau. Es gibt ihn nicht, diesen heiligen Ratschlag. Gäbe es ihn, würdest du ihn schon lange kennen. Immerhin hast du wahrscheinlich schon etliche Jahre Therapie hinter dir. Und ich würde behaupten: Jeder Therapeut möchte, dass du gesund wirst, warum sollte er oder sie dir dann diesen alles entscheidenden Tipp vorenthalten?
Das heißt im Umkehrschluss: Du musst springen, ohne zu wissen, was passiert und ohne dabei ein Sicherheitsnetz unter dir zu wissen. Dieses Netz wäre dein noch nicht aufgebautes Selbstvertrauen und das Vertrauen in deinen Körper, dass er schon alles richtig macht und genau weiß, was er will und was er braucht. Dieses Vertrauen kommt aber erst mit der Erfahrung, dass nichts Schlimmes passiert, wenn du loslässt und isst. Du musst also tatsächlich diesen Bungee-Sprung machen und darauf vertrauen, dass das System funktioniert, ohne es vorab geprüft haben zu können. (Denn hättest du es geprüft, wärest du ja schon gesprungen und hättest erfahren, dass es funktioniert.) Liebe Petra, du bist gemeint!
Es gibt nur einen einzigen Weg!
Hiermit kommen wir dann zu der Angst, etwas "falsch" zu machen in der Recovery. Denn wenn ich ja vorab wüsste, dass ich alles richtig mache, würde ich ja irgendwie aufs System vertrauen und könnte problemlos springen. Du verstehst? Also, um es kurz zu machen. Es gibt nur eine einzige Sache, die du falsch machen kannst in der Recovery. Diese wäre: Du hörst nicht auf dich, sondern orientierst dich am Außen. Das Außen sind andere Menschen (ich zum Beispiel oder deine Eltern und Freunde; aber auch Menschen, die es gut mit dir meinen, darunter zählen sicherlich auch Therapeuten usw.) oder Richtlinien und Maßgaben wie Kalorienangaben oder Mahlzeitenpläne.
Und hier kommen wir an den Punkt, an dem ich mit meiner Meinung eher alleine dastehe. Ja, ich glaube, dass jegliche Vorgaben kontraproduktiv sind. Denn genau so ging es mir: Ich hatte mich 15 Jahre lang höchst akribisch an Vorgaben gehalten. In meinem Fall waren das die vermalledeiten WW-Punkte und im späteren Verlauf, nach meinem Klinikaufenthalt in Bad Oeynhausen, auch Mahlzeiten. Meist natürlich gekoppelt an die Punkte und umgerechnet zwischen 1.500 und – in guten Zeiten – 2.000 Kalorien. Es gab also Phasen in meinem Krankheitsverlauf, in denen ich tatsächlich und für andere "gesund" gegessen hatte: Ich aß brav 2.000 Kalorien in Form von Frühstück, Zwischenmahlzeit, Mittagessen mit kleinem Nachtisch, Zwischenmahlzeit, Abendessen, Zwischenmahlzeit. Und trotzdem war ich sowas von essgestört und somit alles andere als frei oder intuitiv.
Als ich dann beschlossen hatte, endlich loszulassen, musste das für mich heißen: Ich orientiere mich an nichts mehr, nur an mir selbst und meinem Gefühl! Dabei war ebenso klar für mich, dass ich hier keine Doktorarbeit daraus machen darf. Dass ich nicht jedes Gefühl auf die Goldwaage legen darf und einfach so lange esse, bis ich nicht mehr essen will, bis es mir bis zum Hals steht. Natürlich hatte ich Angst davor, schließlich heißt es ja überall: "Wenn du keinen Hunger mehr hast, dann sollst du aufhören, zu essen." Ja aber Himmel Herrgott, wenn ich wüsste, wann ich Hunger beziehungsweise keinen Hunger habe, dann wäre ich verdammt nochmal nicht essgestört!
Und hier kommen wir wieder zu einem Thema, dass ich schon bearbeitet habe. In meinen Blogbeiträgen Eine Geschichte über echte Sättigung, Emotionales Essen und Intuitives Essen habe ich bereits ausführlich darüber geschrieben. Wenn ich esse, dann esse ich, weil
ich Lust habe, zu essen.
Weil ich ans Essen denke.
Weil ich Gelüste habe.
Weil ich noch nicht voll bin.
Das ist Hunger. Und das ist auch heute noch so bei mir! Ich esse meinen Teller immer auf. Nicht, weil ich es so gelernt habe und mein inneres Kind mich dazu zwingt, weil es gehorchen will. Nein, ich lasse nichts übrig, weil ich es verrückt finde, drei Gabeln auf dem Teller liegen zu lassen, die natürlich noch Platz in meinem Bäuchlein finden. Mein Gott, drei Gabeln! Die bringen mich weder um, noch machen sie mich fett. Im Gegenteil, war ich vor den drei Gabeln schon satt, dann bin ich danach eben noch satter, dann schiebe ich den Teller weg und habe eben keine Gelüste mehr auf einen Nachtisch (, der mit höchster Wahrscheinlichkeit dann aber später in meinen Bauch wandern darf).
Ich habe auch in den letzten fünf Tagen gefühlt 98.000-mal in meinen Videos oder mit Frauen, die mir schreiben, über Nutellabrote gesprochen. Und siehe da: Ich esse seit zwei Tagen nonstop Nutellabrote mit Erdnussbutter, weil ich tierisch Lust darauf habe. Auch genau jetzt, während ich diesen Artikel schreibe.
(Das, was da rausquillt, ist eine Schokocrème-Erdnussmus-Kombi, die leider nicht dicker auf's Brötchen gepasst hat. Und ja, ich habe einen Thermomix TM6 und ich kann nicht mehr ohne ihn leben.)
Dabei hatte ich eine lange, lange Zeit wirklich gar keine Lust mehr auf Schokolade auf'm Brot. Schwupps, so kann sich das ändern. Das ist völlig normal und in Ordnung so! Ich liebe es, auf mich zu hören! Und nein, ich warte nicht, bis der Magen knurrt. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, wann er zuletzt bei mir geknurrt hat – ich kann mich wirklich nicht daran erinnern. Heißt also auch (Das hier ist für dich, Sarah!): Ja, ich esse auch immer wieder, wenn ich laut allgemeinem Konsens "keinen Hunger" habe. Wenn nicht der Magen knurrt oder sonstige Aktivitäten in meinem Körper darauf hindeuten, dass ich Hunger habe.
Ich esse, wenn ich an Essen denke.
Ich esse, wenn mich eine unsichtbare Hand ganz liebevoll in Richtung Kühlschrank leitet.
Ich esse, wenn ich weiß, dass ich nur jetzt einen kurzen Timeslot zum Essen habe – weil ich danach wieder losmuss oder sonstwie beschäftigt sein werde.
Ich esse nur dann nicht, wenn ich um Himmels Willen keine Lust auf Essen habe, weil ich rundum satt bin.
Das hört sich jetzt an, als würde ich quasi ununterbrochen Nahrung in mich hineinstopfen. Das ist natürlich nicht so. Aber: Genau so hat es sich in den ersten Wochen meiner Recovery tatsächlich angefühlt. Ich hatte sogar ein Schälchen mit Schokoriegeln und Keksen auf dem Nachttisch stehen, für den Fall, dass ich nicht doch noch etwas essen möchte, während mir die Augen zufallen. You never know, right? Ja, so war das bei mir.
Du wirst sterben!
Ich weiß, das hört sich alles so einfach an! Aber glaube mir, es war alles andere als das. Es war das Schlimmste, was mir in meinem Leben je passiert ist. Es war die Hölle. Selbst die Essstörung hatte sich 15 Jahre lang nicht so schlimm angefühlt wie der Punkt, an dem ich gesprungen bin. Das ist die Wahrheit. Mir ist bewusst, dass das völlig verrückt klingt. Aber das ist wohl auch genau der Grund, warum du noch nicht gesprungen bist. Warum du noch nicht den Mut aufbringen konntest, endlich loszulassen und zu essen. Denn was passieren wird, ist: Du stirbst.
Dein altes Ich muss gehen. Du tötest es vom einen auf den nächsten Moment. All' das, was dich über so viele Jahre über Wasser gehalten hat, jede Regel, jeder Habitus, alles wird von jetzt auf gleich über Bord geworfen. Dein altes Ich ertrinkt. Ich zum Beispiel hatte die ersten zwei Wochen hindurch das permanente Gefühl, zu fallen. Das passt wirklich gut zu dem Bild des Springens. Aber ich meine das nicht metaphorisch. Es hat sich tatsächlich körperlich so angefühlt, als wäre ich im freien Fall. Als würden meine Organe nach oben schießen, während mein Körper in die Tiefe stürzt. Und jetzt kommt die traurige Wahrheit: Auch du musst da durch, wenn du gesund werden möchtest. Glaub' mir, du hast die seelische Arbeit geleistet, wenn du viele Jahre Therapie hinter dir hast. Diesen Teil kannst du ganz nonchalant abhaken. Was jetzt passieren muss, ist einzig und alleine die Handlung. Das Essen.
Der Mut, das Vertrauen und die Gewissheit.
Wie also bekommst du den Mut, loszulassen? Woher kommt das Vertrauen, dass dein Körper es ausschließlich gut mit dir meint? Woher kommt die Gewissheit, dass du eben nicht fett und esssüchtig werden wirst? All' das kommt nur, wenn du gesprungen bist. Diese Sicherheiten sind Teil deines Weges. Sie werden mit jedem neuen Tag, an dem du isst, größer und größer und größer. Weil du mit jedem Bissen, den du isst und verwertest, lernst, dass nichts Schlimmes passiert. Dass du nicht platzt. Dass dir dein Körper sehr wohl klipp und klar sagt, wann er nicht mehr will. Und das hat nichts mit der Sättigung zu tun, über die alle so gerne sprechen. Die "Es-fühlt-sich-so-an-als-würde-eine-Klappe-im-Magen-zuklappen"-Sättigung. What? Welche Klappe? Ist sie jetzt schon zugegangen und ich habe das Zuklappen überhört? Habe ich jetzt was falsch gemacht? Aaaaah, ich bin so unsicher, ich höre lieber mal auf zu essen ... Ich kenn das nur zu gut! Nein, Sättigung ist dann da, wenn du verdammte Hacke nichts mehr essen willst! Gelüste sind Hunger!!!
Du musst also ohne Fallschirm springen. Du musst springen und darauf vertrauen, dass du Flügel hast. Wow! Du hättest gerne etwas anderes gehört, ich weiß das. Aber das ist die traurige Wahrheit. Sieh' es mal so: Niemand kann dir sagen, ob du am Ende erfolgreich sein wirst, aber du weißt, dass du so nicht mehr weiterleben möchtest. Damit ist die Sache doch ganz einfach: Du springst. Und wenn es nicht klappt und du dich nach zwei Jahren fresssüchtig und fett auf der Couch wiederfindest, hast du immer noch die Möglichkeit, wieder magersüchtig zu werden. Das kannst du, darauf kannst du bauen. Wieder dürr werden ist für dich sicher kein Problem. Du hast es dir zehn, zwanzig, dreißig Jahre lang bewiesen.
Für den sehr wahrscheinlichen Fall aber, dass es eben doch klappt, dass dein Körper einfach nur mit Essen gesund werden möchte und von selbst die Bremse reinhaut, wenn es ihm reicht, für diesen Fall hieße das, dass dich ein Leben in Freiheit erwartet. Ein Leben mit Flügeln. Ein Leben, dass so lebenswert ist, dass du sicherlich nie wieder dorthin zurückmöchtest, wo du heute und hier bist. Klingt das nicht wunderbar? Streng genommen kannst du also gar nicht verlieren. Du kannst springen. Jetzt!
Mit wie viel Essen wirst du gesund?
Und musst du dafür die von Minnie Maud vorgegebenen 2.500 Kalorien mindestens essen? Ich bin ehrlich: Ich weiß es nicht. Denn wenn wir hier von 2.500 Kalorien mindestens sprechen, sprechen wir schon wieder über eine Zahl, eine Vorgabe. Für mich waren diese Zahlen tödlich. Ich hatte in den ersten zwei Tagen meiner Recovery versucht, zu überschlagen, wie viel ich esse. Dabei ist mir der Atem stehengeblieben und ich bin rückwärts auf dem Sofa liegengeblieben. Für mich war es also absolut kontraproduktiv. Schließlich war ich weit, weit über dieser Angabe. Deshalb hatte ich mich schlussendlich dann auch auf das völlige Loslassen eingelassen. Das war weit einfacher, als mir auch noch vor Augen zu halten, was ich da alles in mich hineinstopfe.
Was aber, wenn du nicht weißt, ob du auf diese 2.500 Kalorien kommst? Mein Vorschlag: Höre auf dich. Iss', wann immer dir danach ist und iss' bestenfalls das, worauf du Lust hast. (Manchmal geht das natürlich nicht. Mach' da bitte auch keine Doktorarbeit draus, sondern iss' einfach das, was dem am nächsten kommt. Wenn du also gerade auf der Arbeit bist und Lust auf Kaiserschmarrn hast, dann iss' halt etwas Süßes anstatt etwas Herzhaftes.) Hör' erst auf, zu essen, wenn du wirklich nicht mehr essen möchtest. Noch einmal: Gelüste sind (mentaler) Hunger! Ich bin mir ziemlich sicher, dass du somit – auch als Magersüchtige – in einen guten Bereich kommst, was die Nahrungsmenge betrifft. Und mal ehrlich: Was sind schon Kalorien? (Wikipedia: Eine Kalorie entspricht der Menge an Energie, mit der man ein Gramm Wasser um ein Grad Celsius erwärmen kann. Wollen wir wirklich von solchen Zahlen unser Glück abhängig machen? Ich finde, unser Körper kann das sehr gut für uns übernehmen, denn dafür ist er gemacht!)
Und ich glaube auch, dass du, für den Fall dass du noch nicht so viel schaffst, mit jedem neuen Tag immer mehr zu dir nehmen kannst. Nämlich dann, wenn dein Körper spürt, dass du es ernst meinst. Dass du ihm nun wirklich immer die Energie schenkst, die er zum fabulösen Leben braucht. Dann werden sich vielleicht auch Schleusen öffnen und du wirst den Extremhunger verspüren. Wunderbar! Wenn das so ist: Lass' ihn zu. Er macht dich gesund. Und je mehr du ihm nachgibst, desto schneller geht deine Genesung vonstatten.
Beachte aber: Zwinge dich nicht, weiterzuessen, wenn dir das Essen bis zum Hals steht! Solltest du sehr, sehr untergewichtig sein, dann lies' dich bitte auch noch einmal in das Refeeding-Syndrom ein. Extremhunger bedeutet, dass du immer weiter essen kannst und willst, ohne dich dazu zwingen zu müssen.
So. Ich hoffe, ich habe alles gesagt. Solltest du noch Fragen haben, dann bitte ich dich herzlich, mir einen Kommentar unter diesen Beitrag zu schreiben, damit ich deine Frage auch für andere beantworten kann. Ich bekomme zur Zeit so einige Mails und es ist sehr viel Aufwand für mich, diese mit all' meinem Herzen und Gutwillen zu beantworten – in einer Pandemie mit Selbstständigkeit und zwei (Klein-) Kindern, ohne regelmäßige Schule und Kita und ohne Omas und Opas.
Ich danke dir!
Und jetzt: Spring. Je schneller du es hinter dir hast, desto besser. Das ist einfache Mathematik. Vertrau' mir, ich hatte 15 Punkte im mündlichen Mathe-Abi. Zwinker.
Ich danke Dir von ganzem Herzen ❤!